Onkel Bernhard

Onkel Bernhard

 

Jedesmal wenn wir Sonntags durch W. spazieren gehen und dabei durch die Mahlsdorfer Str. kommen, zeige ich auf ein mit hohen Nadelbäumen bewachsenes Grundstück mit der Bemerkung „Hier hat Onkel Bernhard gewohnt.“ Wir schauen dann beide durch die Stämme der riesigen Fichten hindurch zu dem flachen Wohnhaus, als hofften wir, Onkel Bernhard könnte tatsächlich noch mal auftauchen.

 

Onkel Bernhard hieß zwar bei mir und meinen Geschwistern Onkel Bernhard, aber er war eigentlich der Onkel unserer Mutter und der Halbbruder ihres Vaters, unseres Großvaters Georg. Unser Opa, Jahrgang 1903 war ein toller Kerl; er war Damenmaßschneider, noch dazu ein Schneidermeister mit einem eigenen Laden im Friedrichshain. Aber an seinen älteren, noch im 19. Jahrhundert geborenen Bruder, kam er nicht heran. Onkel Bernhard, der in seiner Jugend in Südamerika auf Goldsuche war, übertraf den Opa um Längen. Eigentlich wussten wir darüber nicht viel mehr, als dass er durch die Goldsuche nicht reich wurde; seine Familie musste sogar für die Rückreise nach Europa über den großen Teich Geld zusammenlegen.

 

Unser Opa hatte bereits in den dreißiger Jahren ein Grundstück in W. bei Berlin erworben. Da aber die Schneiderstube in Berlin war, fuhr man nur am Wochenende auf das Grundstück. Bernhard jedoch war mit seiner Frau ganz in die Nähe von W. nach M. gezogen, an den Stadtrand von Berlin. Bald hatten sie zwei kleine Kinder, wie auch meine Großeltern.

 

Dann begann der 2. Weltkrieg und Georg und Bernhard wurden eingezogen. Mit unheimlich viel Glück kamen beide nach Kriegsende wieder nach Hause zurück. Unsere Oma hatte mit unserer Mutter und deren Bruder nur alles überlebt, weil sie zu Verwandten nach Mecklenburg gegangen waren. Aber ihre schöne Wohnung in Friedrichsfelde wurde zerbombt. Bernhards Frau jedoch und die zwei kleinen Kinder fielen den Bomben in Mahlsdorf zum Opfer, das Haus lag in Schutt und Asche.

 

Irgendwann fand Bernhard eine neue Frau – Tante Maria, sie konnte allerdings keine Kinder bekommen. Nun suchte er sich auch ein Grundstück in W., ca. 200 m Luftlinie von dem meines Großvaters entfernt. Er baute ein Häuschen und zog mit seiner Maria fest dort ein.

 

Meine Eltern hatten inzwischen mit viel Arbeit und Schweiß an das Gartenhäuschen der Großeltern angebaut und es war genug Platz, dass die Großeltern, Eltern und wir drei Kinder an den Sommerwochenenden im Häuschen übernachten konnten.

 

Manchmal kam an diesen Wochenenden Onkel Bernhard wie zufällig vorbei. Irgendwie war immer schönes Wetter, wenn er und seine Maria auf dem Rückweg von einer Radtour bei uns Halt machten und den Kopf reinsteckten. Das Gesicht wettergegerbt und braungebrannt mit strahlenden blauen Augen und mit tausenden Lachfalten, ein paar weiße Haare auf dem Kopf, die hochstanden wie bei einem Igel, die Hosenbeine mit Klammern zusammengerafft, so stand der kleine drahtige Mann vor uns, grinste uns Kinder verschwörerisch an und fragte: „Na, wie jeht et?“ Unser Opa, der wie sein Bruder in Berlin geboren war und eigentlich kaum mal aus Berlin rausgekommen ist, sprach immer hochdeutsch. Aber Onkel Bernhard berlinerte, was das Zeug hielt. Dann knuffte er uns in die Seite und machte seine Späße mit uns.

 

„Wo wart ihr denn?“ wollte ich wissen und seine Augen wurden immer runder, er lachte, dass die Ohren Besuch bekamen „Wir waren in Schöööneiiiche“ und wir stellten uns Schöneiche traumhaft vor wie Venedig oder Paris. 

 

Es kam auch vor, dass wir zum Kaffe bei Onkel Bernhard und Tante Maria eingeladen wurden, nicht oft, denn wir waren ja viele Personen. In ihrem Haus gab es keine Kinder und Enkel und wir haben sicher für ordentlichen Aufruhr bei unseren Besuchen gesorgt. Damals verlief noch ein kurzer Weg zwischen beiden Grundstücken, aus der hinteren Gartenpforte heraus, ein paar Meter einen Kiefern umsäumten Waldweg entlang und in Höhe eines Birkenwäldchens nach links abbiegen, schon stand man an Onkel Bernhards hinterer Gartentür. Zunächst war immer ein Rundgang durch den Garten fällig, in den die beiden viel Zeit und Liebe steckten. Onkel Bernhard war eigentlich schon Rentner und ging nur ein paar Stunden als Hotelboy im Berolina-Hotel in der Karl-Marx-Alle arbeiten. Aus seiner Zeit in Südamerika konnte er spanisch und bezircte nun mit seiner lustigen, offenen Art die Besucher aus aller Welt, die im „Berolina“ abstiegen. Bis zu seiner Rente hatte er nach dem Krieg als Kostümschneider in der Staatsoper gearbeitet, nun besserte er seine Rente noch etwas auf.

 

Auf dem gemeinsamen Kaffekränzchen bestritten unsere Oma und Onkel Bernhard die Unterhaltung, denn beide sprühten vor Energie und Temperament, aber Onkel Bernhard war noch viel lustiger als unsere Oma. Die etwas wunderliche Tante Maria hatte Nusskuchen gebacken, die Nüsse waren aus dem eigenen Garten.

 

Am schönsten war es, wenn unsere Mutter zu Hause etwas vergessen hatte, was ab und zu vorkam wegen der zwei Haushalte, wie sie schimpfte. Dann durften wir zum Onkel Bernhard laufen, um zum Beispiel Eier oder Backpulver zu borgen. Immer war er gerade dabei, irgendwas zu reparieren, zu pflanzen oder rumzupusseln, bei schönem Wetter barfuß, nur mit einer weiten Shorts bekleidet und mit erdverschmutzten Händen. Sobald er uns sah, unterbrach er seine Arbeit, stürzte sich voller Freude auf uns und zeigte uns zuerst seine wahren Schätze. Das war der von ihm selbst gebaute Keller, in den man über eine steile Treppe vom Flur aus gelangte. Obwohl es etwas gruselig war, fanden wir es toll und aufregend mit Onkel Bernhard in den muffigen, dunklen Keller hinabzusteigen, wo er uns voller Stolz sein Vorratslager zeigte.

 

Die Krönung aber war der Hühnerstall, den er selbst gezimmert hatte, bewohnt von lebendigen, gackernden Hühnern, aus der er mit Freude die frischen Eier entnahm. Wir Stadtkinder standen mit viel Respekt davor und trauten uns nicht in den Stall hineinzufassen.

 

Zum Abschied brachte er uns an die hintere Pforte, gab uns ein paar lustige Sprüche und Grüße für die Eltern mit auf den Weg und winkte uns noch hinterher, als wir durch die weißen Birkenstämme zum Hauptweg liefen. Die Grüße vergaßen wir, ehe wir zurück waren, aber an seine lebenslustige Art erinnere ich mich heute noch, wo er schon lange unter der Erde liegt. Deswegen kann ich mir nicht verkneifen, wenn wir an seinem Grundstück vorbeikommen zu sagen „Hier hat Onkel Bernhard gewohnt“, auch wenn mein Mann es nicht mehr hören kann…

 

 

 

Sylvia Mielecke

 

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